Was ist eigentlich Tradition? Wozu nutzt sie und was hat sie mit einem Roman über die Maya zu tun?

 

Besonders in der Weihnachtszeit pflegen wir Christen unsere Traditionen – auch wenn viele davon heidnischen Herkunft sind und mit dem Christentum und seinen Symbolen ursprünglich nichts zu tun hatten. Schon alleine dieses Beispiel zeigt uns doch, wie stark oder auch hartnäckig Traditionen sein können: Sie werden ein bisschen geformt und angepasst, damit sie mit dem modernen Weltbild koordiniert werden können, aber aufgeben wollen wir Menschen unsere Traditionen nicht so einfach.

Traditionen schenken uns Halt und sind eine Konstante im Wandel der Zeiten. Sie versprechen uns, dass es etwas Bleibendes geben kann, wenn man die besagten Brauchtümer nur pflegt (obwohl ja bekanntlich nur der Wandel das einzig unwandelbare ist). Das ist etwas Schönes und wir können unsere Bräuche an unsere Kinder weitergeben. So leben wir nicht nur in unseren Kindern, sondern auch in den Sitten und Gebräuchen weiter: in den Weihnachtsliedern, die wir in der Adventszeit mit unseren Kindern singen; in der Art, wie der Nikolaus oder der Weihnachtsmann die Geschenke überbringen; welche Leckereien wir aus Tradition im Winter (obwohl der Anfang des Monats Dezember ja noch streng genommen zum Herbst zählt) auf den Weihnachtsmärkten vernaschen (gesunde Ernährung wird hierfür gerne ausgesetzt – in traditioneller Überzeugung, uns etwas Gutes zu tun); welche Geschichten wir zum Christfest vorlesen oder mündlich überliefern; welche Art Adventskalender uns auf den letzten Tagen im Jahr zum Weihnachtsfest hin begleitet… Die Weihnachtszeit bedeutet, dass sich Geschichte wiederholen kann - und wir erlangen durch die uns heiligen Traditionen eine Art Unsterblichkeit.

Ja, der Dezember ist fast schon weltweit der Monat der gelebten Traditionen (auch Silvester, also der Jahreswechsel von Dezember in den Januar, wird nicht ausgelassen, selbst wenn das Neujahr der ansässigen Gemeinde, so wie in China, erst im späten Januar stattfindet). Sogar in nicht christlichen Ländern schallt die frohe Botschaft in vielen Sprachen und oft dröhnend laut durch die Einkaufszentren. Und hier wird mir immer wieder besonders klar, wie behutsam und bewusst man mit Traditionen umgehen sollte, dass sie nicht zu Fesseln werden, die schnell zerstörerisch wirken können. Heutzutage verkommt die schöne Tradition von Weihnachten nur allzu leicht zu einem Kaufrausch von Geschenken. Und diese Weihnachtsgeschenke kommen nicht unbedingt von Herzen, sondern werden gemacht, weil man nun ja zu Weihnachten etwas schenkt. Immer wieder gern gesehen der Kochtopf - ein Gebrauchsartikel, den sich die meisten Menschen auch zwischendurch vom Taschengeld kaufen könnten. Das Beispiel ist nicht urteilend gemeint, soll aber zum Denken anregen, wozu und wie wir Weihnachten feiern wollen. Jeder ganz persönlich.

Hier ist (das schon in anderen meiner Blog-Beiträgen angesprochene) Bewusstsein ein wichtiges Thema. Lebt man allerdings unbewusst dahin, können uns Traditionen nur allzu leicht besagte Fesseln anlegen: Wir halten uns an alte Überlieferungen, ohne sie zu hinterfragen.

Traditionen verkommen dann zu eisernen Gesetzen, die uns zu Hörigkeit verdammen, ohne uns daran zu erinnern, unseren Menschenverstand einzuschalten. Es ist, als legte uns die Gesellschaft Regeln vor, die nicht gebrochen werden dürfen. Gesellschaftliche Normen sollen eingehalten werden und dürfen nicht and den Lauf der Zeit angepasst werden, denn das wäre ein Bruch der Tradition.

Bestimmt trifft das bei vielen Menschen nicht auf das Christfest zu, doch habe ich mich gerade neulich auf der Buchmesse mal wieder mit einem Moslem über die Rechte der Frauen unterhalten. Er war fest davon überzeugt, dass Frauen beschützt werden müssen und deshalb die Burka tragen sollten. Er verstand nicht, dass ich das im Jahre 2012 für unangebracht hielt und davon überzeugt war, ich könne ganz gut auf mich selbst aufpassen. Und schon gar nicht konnte dieser gute Mann einordnen, dass er mit der Auffassung eines der Menschenrechte missachtete. Schade! Tradition wird in diesem Beispiel beibehalten, rigoros. Ich kann mir nur vorstellen, dass sie durch Menschen (Männer) weitergegeben wird, die voll Angst vor Kontroll-Verlust waren und noch immer sind.

Aber zurück mit einem Blick auf die Tradition im Allgemeinen und was die Maya darunter verstanden. Wie ich bereits früher erläuterte, waren die Maya von dem Phänomen ‚Zeit’ besessen. Alles war am Werden und die Maya waren für dieses Werden verantwortlich. Sie verstanden Zeit nicht im quantitativen Sinne, sondern jeder Tag hatte seine eigene Qualität, und die entsprechenden Handlungen (Hochzeiten, Kriege etc.) oder Geschehnisse (z. B. Geburten oder Todesstunden) wurden von dieser Qualität erfüllt.

Tradition im von uns verstandenen Sinne gab es nicht. Wir wollen durch Tradition einer Zeit oder einen Tag feiern, in Gedenken dessen, was sich damals zugetragen hatte. Die Maya dachten bei Feierlichkeiten ganz anders: Für sie galt es, die Qualität des damaligen Geschehnisses wieder heraufzubeschwören, dass sie sich positiv auf den Lauf der Zeit auswirken könne. Ein Feiertag wurde also nicht zur Erinnerung begangen, sondern als eine Art heiliger Akzent oder gar Manipulation im endlosen Kreisen der Geschehnisse.

Um die Qualität eines Tages bestimmen zu können, zogen die Maya ihre Kalender zu Rate (einer von ihnen ist in einem von drei noch erhaltenen Büchern, dem Dresdner Codex, abgebildet) und lasen in den Sternen, was sich zutragen würde (Ein sinnvolles Vorgehen, denn nachts konnte man die Geschehnisse der Unterwelt am Firmament beobachten, und die Ahnen lebten dort vor, was sich in der Geschichte ereignen würde. Eigenständiges Handeln, um den Lauf der Dinge zu beeinflussen, war somit fast ausgeschlossen – nur die Könige konnten in ihren Trance-Reisen in die Unterwelt Xibalbá mit den Ahnen über das Kommende verhandeln). Dies war kein simpler Aberglaube, sondern eine umfangreiche Wissenschaft, die lange studiert werden musste. Das gesamte Weltbild der Maya durchzog alle Bereiche ihres Lebens und wurde zum Beispiel auch in der Architektur wiedergegeben. Die Maya suchten immer wieder Parallelen zu historischen Geschehnissen und schafften sich auf diese Art und Weise ein umfangreiches, für sie nachvollziehbares Weltbild.

Mein Roman ‚Der Sprung im Spiegel des Seins’ ist somit in den Kapiteln, die in der Zeit der Maya spielen, ein Historischer Roman (auch wenn dieses Genre der Literatur offiziell nicht auf einen Roman zutrifft, der die Protagonistin durch eine Zeitreise in die vergangene Geschichte entführt). Aber der Sinn des Romans ist nicht nur, die Kultur der Maya verständlich zu machen, sondern er liegt auch darin, unsere Kultur in der Zivilisation der Maya widerzuspiegeln: Sind wir in unserer Denkweise so viel moderner und aufgeklärter als alte Völker es waren?

Auch die Maya hätten ihre Religion (und Religion ist auch immer zu einem großen Teil Tradition) der eigenen Geschichte anpassen können. Nur war das in ihrer Kultur noch schwieriger als für uns heutzutage, lebten sie doch in einer Zeit der Menschheitsentwicklung, in der die Gesellschaft mehr als der Einzelne zählte. Und dadurch war ein natürliches Wachstum, wie wir es heute in christlich geprägten Gesellschaften erkennen können (weg von Dogmen, die anscheinend biblisch begründet sind, hin zu persönlich verstandener Spiritualität), undenkbar.

Aber auch wir sind alten Traditionen und Denkweisen mehr verpflichtet, als wir es zugeben möchten. Selbst der moderne, westliche Mensch plant seinen Tag nach einer Taktung (nämlich ‚Zeit’, in Stunden und Minuten ausgedrückt), die von der Physik schon längst als überholt gilt. Zeit besteht laut Einsteins Relativitätstheorie nicht abgetrennt vom Raum, sondern ist Teil der Raumzeit-Dimension. Aber diese Raumzeit kann sich ein normaler Mensch nicht einmal vorstellen, funktioniert doch unser gesamtes traditionelles Gedankenkonstrukt auf mittelalterliche Weise und hat kaum einen Zeitbezug zur Moderne. Immerhin können wir in Büchern nachlesen, dass die Welt nicht mehr den Mittelpunkt des Universums bildet, und auf Bildern wird uns immerhin unser eigenes Sonnensystem dreidimensional abgebildet. Aber die nächste Dimension, die Raumzeit, fehlt auch hier.

Mein Roman, der ja zum Teil bei den Maya spielt, ist weiß Gott kein Wegweiser, wie wir diese neue Idee der Raumzeit in unseren Alltag einschließen können (dafür gibt es bestimmt bereits andere Bücher), denn auch ich bin mit den traditionellen Gedankengängen, wie sie in Deutschland und der westlichen Welt geschichtlich oder auch religiös geformt wurden, verbunden. Aber ich denke, ich kann mit gutem Gewissen behaupten, dass mein Roman zum Denken anregt. Vielleicht macht er den einen oder anderen Leser etwas demütiger, wenn er über andere zu urteilen beginnt. Und mein größter Erfolg als Autor oder Schriftsteller wäre es, wenn ich den einen oder anderen Leser dazu animieren könnte, von seinem klassischen Denken Abstand zu nehmen, um eigene Gedankengänge zu kreieren. Genau so, wie es die Protagonistin meines Romans, Chiara, tut. Und auch sie hat mit traditionellem Gedankengut zu kämpfen, nämlich mit ihrem eigenen und dem von Milton, dem Geschäftsführer des kleinen Hotels, in dem sie in Yukatan (Mexiko) unterkommt.

Es gibt Vorteile, an Traditionen festzuhalten und überlieferten Ideologien zu folgen. Ein gutes Beispiel sind die Buddhisten. Es macht aber auch Sinn, Traditionen (seien es nun Tradition im kleinen Kreis der Familie oder Freunde – oder gesellschaftliche Traditionen) immer wieder zu hinterfragen und neue, selbständige Gedanken und Handlungen zu kreieren. Wir wären dann weniger das Instrument für Projekte anderer – z.B. Politikern (die mit unkritisch denkenden Menschen sogar ganze Weltkriege anzetteln konnten) oder der Gesellschaft oder unserer vergangenen Geschichte - und könnten das Gewesene für uns nutzen… Wie einen Spiegel, der uns zeigt, was zu uns gehört. Wieso sollte es nicht auch mal möglich sein, aus der Geschichte zu lernen?