Kapitel 23 – ein wirklichkeitsnaher Traum

                             

Friedvoll plätscherten blassrosa getünchte Wellen um Chiaras Knöchel. Ihr Blick glitt den Farbenteppich entlang, hinaus aufs Meer zur Sonne, mit deren Strahlen sie gemeinsam am Strand eingetroffen war. Immer kräftiger wurde das Leuchten des Feuerballs, bis Chiara ihre Augen abwenden musste. Sie ging zu den Dünen und legte sich in den Sand, wo sie den zarten Morgenhauch genoss, der gemeinsam mit der Sonnenwärme sanft über ihre Haut strich. Die drückende Feuchtigkeit der letzten Tage gönnte sich an diesem Morgen eine Pause.

Lächelnd erinnerte sich Chiara an den Traum der vergangenen Nacht, aus dem nun ihre Zufriedenheit entsprang. Jakob saß dicht neben ihr und sie unterhielten sich. Die Krankheit, sein Tod: Sie waren nur ein Irrtum, er war nur auf Reisen gewesen und bestens gelaunt zurückgekehrt. Seine Nähe hatte ihr gut getan und offene Wunden heilen lassen.

Chiara hatte sich von Jakob verabschiedet, als würden sie sich schon am nächsten Tag wiedersehen. Dann war sie durch seine Küchentür in die Mayahütte gelangt, wo sie auf die Heilerin traf, der sie gerührt erklärte: „Hielte Jakob sein Ohr an mein Herz, so hörte er Meereswellen rauschen… Wovon murmeln sie nur, dass sie nie Ruhe geben?“

„Sie wissen, dass dein Herz ebenso geduldig und endlos ist wie das Meer. So ausdauernd wie sie selbst.“ Die Heilerin winkte Chiara näher. „Deine Wogen schlagen höher als die der meisten Menschen. Dadurch hast du die Möglichkeit, tiefer hinab zu blicken.“

„Aber ich sehe nichts.“

„Über kurz oder lang wirst auch du den Mut finden, hinzuschauen. Wir alle müssen herausfinden, was uns im Tiefen berührt… was unser Geheimnis ist… das Mysterium unseres Wesens. Auch du wirst keine Wahl haben. Lass die Brandung zu, lass sie deine Seele ergreifen.“

„Hat Jakob das Mysterium seiner Wellen je erfasst?“

„Ja. Er erkannte den unsterblichen Teil von sich, der mit der Ewigkeit des Meeres verbunden ist. Und deshalb durfte er gehen… Lass auch du ihn gehen, Chiara. Du wirst nicht versinken… Du wirst zu treiben beginnen, von den großen Weiten getragen…“

Alles hatte so selbstverständlich gewirkt und Chiara konnte kaum glauben, dass es sich lediglich um einen Traum gehandelt hatte, doch ihre Vernunft bestand beharrlich darauf. Jakob war tot. Und sie lächelte dennoch. An diesem Morgen riss der Gedanke an den Verlust kein Loch mehr in ihr Herz. Stattdessen hegte sie Hoffnung, den Tod in ihr Leben einfügen zu können. Nicht sofort. Aber eines Tages würde sie soweit sein. ‚Mein Traum ist doch ein Beweis, dass der Tod unmöglich das Ende bedeuten kann… Jakob war so ausgelassen, so fühlbar nahe. Er ist noch so gegenwärtig. Ich habe Jakob nicht verloren! Ich werde ihn immer wieder finden… auf einer seiner Reisen.’

Ein Schatten fiel auf ihre Augenlider und ließ sie aufschrecken. Es war Milton, der die Sonne verdeckte. „Wo bist du denn mit deinen Gedanken? Du hast mich ja nicht einmal kommen hören.“

Chiara sprang auf. Zwar klang Milton irgendwie vorwurfsvoll, doch sie ignorierte seinen Unterton, tat einfach, wonach ihr zumute war, und umarmte ihn spontan. „Es ist so schön, dass du wieder da bist. Komm, setz dich zu mir… Ich war mit meinen Gedanken bei einem Traum, der mir von heute Nacht in Erinnerung geblieben ist.“

„Wieder ein Traum, hm?“

Miltons Tonfall war jetzt nicht mehr einwandfrei einzuordnen, was Chiara stocken ließ. ‚Vielleicht sollte ich ihm lieber nichts erzählen. Was, wenn er nicht versteht, welche Bedeutung die Begegnung mit Jakob für mich hat und ich in Erklärungsnot komme? Der Zauber könnte sich ganz schnell verflüchtigen.’ Aber sie wollte es riskieren. Sie musste den Traum in Worte fassen, jemandem mitteilen, um ihn selbst besser zu verstehen und ihre neue Zuversicht zu festigen. Gegebenenfalls würde sie Milton an ihre Bitten vom Vorabend erinnern. „Heute Nacht ist mir Jakob begegnet. Wir haben miteinander gelacht…“ Chiara schielte zur Seite und stellte erleichtert fest, dass Milton freundlich nickte. „Du weißt… ich habe in den letzten Monaten viel über den Tod nachgedacht und durch den Traum ist mir eines klar geworden: Mit dem Tod scheint es ähnlich, wie mit der Realität… nur die Betrachtungsweise zählt.“

„Hm…“ Milton konnte mit der Erklärung offenbar nichts anfangen.

„Der Tod hat seine Bedrohung verloren. Er bedeutet weder Verlust noch Vergänglichkeit.“

„Sondern?“

„Irgendwie glaube ich, dass wir nach dem Tod nicht einfach verschwinden. Etwas muss danach noch kommen.“

„Du kannst es wohl einfach nicht lassen, Chiara.“ Milton klang genervt und schaute auf die Uhr, während seine Kiefermuskeln angespannt zuckten. „Ich muss los. E-Mails checken.“ Dann sprang er auf und ging, ohne einen weiteren Kommentar. Ein scharfer Pfiff und Pablo kam aus den hohen Gräsern geschossen, ihm zu folgen.

Chiara blieb sitzen, die Stirn in Falten gelegt, und sah den beiden hinterher. Kurze Zeit später hörte sie den Motor des Jeeps aufheulen und danach wurde es wieder still. Der Wind war abgeflaut. Selbst das Meer lag so sanft wie ein See und ein bleierner Schatten am Horizont schien alles zu lähmen. Sie legte sich hin und kaute auf ihrer Lippe. ‚Vielleicht habe ich mich ja nicht präzise genug ausgedrückt, denn meine neue Sichtweise macht doch Sinn. Wenigstens nachfragen könnte Milton, wenn er mich nicht versteht. Dann wüsste ich zumindest, wobei er mir nicht folgen kann.’ Chiara wollte diesen schönen Morgen weiterhin genießen und schloss erneut die Augen, um in den Traum zurückzutauchen. Ohne Erfolg. Die Bilder wollten nicht wiederkehren und auch das wunderbare Gefühl war verloren. Ärger über Miltons Reaktion hatte die Oberhand gewonnen und ihr besinnlicher Morgen war dahin. So ging Chiara zur Küche, um das Frühstück für die Gäste zu organisieren, und als die vier später an den Strand gingen, machte sie sich wieder einmal ans Aufräumen. Alle Küchengeräte und Teller, die sie während der letzten Wochen nie benutzt hatte, landeten in einem großen Karton. Der hatte sich bereits gefüllt, als Milton am späten Nachmittag zurückkehrte und zwei Einkaufstüten mitten in das Küchenchaos stellte.

„Was um Himmels Willen machst du hier?“

„Ich entrümple die Küche und wische alle Schränke aus.“

Milton zog sie vom Regal weg. „Dann kannst du jetzt aufhören, denn wir haben ab Freitag eine Putzfrau. Ich habe eben eine im Dorf eingestellt.“ Er stutzte. „Du hast das doch schon kurz nach deiner Ankunft alles aussortiert.“

„Ich weiß. Jetzt habe ich aber einen besseren Überblick. Hier in der Kiste ist alles drin, was wir sowieso nie benutzen. Wenn es dir recht ist, werfen wir das weg.“

„Chiara, die Sachen gehören doch nicht uns, sondern Sam. Lass sie einfach irgendwo im Regal, wo sie uns nicht stören.“

„Sie stören mich aber überall…“ Chiara wollte schon weiterwirbeln, doch ließ Milton sie nicht los.

„Schau mich mal an… Was ist denn in dich gefahren?“ Wieder versuchte sie sich wegzudrehen. Stattdessen hielt Milton auch noch den anderen Arm fest, dass sie ihm nicht ausweichen konnte. „Was ist los!?“

Chiara kam sich in Miltons Griff plötzlich klein und albern vor. Mit belegter Stimme flüsterte sie: „Ich war vorhin so enttäuscht, als du einfach aufgestanden bist, dass ich das Gefühl irgendwo loswerden wollte.“ Und nach einem Räuspern fuhr sie mit bestimmterem Tonfall fort. „Milton, du weißt doch, weshalb ich tatsächlich hier bin. Ich wollte den Tod meines Freundes vergessen, was wochenlang nicht funktioniert hat. Letzte Nacht ist mir Jakob dann im Traum begegnet und das tat so gut, dass ich seinen Tod und meine Gefühle darüber mit einem Mal besser ertragen kann. Das wollte ich mit dir teilen… Wieder habe ich mich dir geöffnet und du wolltest mich nicht verstehen. Du hast mich mitten in der Erzählung einfach sitzengelassen.“ Milton lockerte seinen Griff und bedeutete ihr fortzufahren. „Mir ist vor ein paar Tagen im Gespräch mit Marga etwas deutlich geworden… ich habe dir noch nicht einmal von Marga erzählt, oder?“

Milton schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Sie half mir verstehen weshalb Jakobs Tod für mich so schwer zu akzeptieren ist.“

„Und zwar?“

„Jakob hat mir immer Halt geben.“

„Das hast du mir doch auch schon vor meiner New York Reise erzählt.“

„Ich weiß. Aber was mich besonders bedrückt hat ist, dass ich während seiner Krankheit nicht für ihn da war. Und nach seinem Tod dachte ich immer, ich könnte mein schlechtes Gewissen darüber mit meinem Verstand regeln… und der funktionierte plötzlich nicht mehr. Er hat mir vorgegaukelt, dass meine Auszeit eine tolle Lösung für alles sei, was mich damals bedrückt hat.“

„Das sehe ich genauso. Du hast dein Leben hier doch ganz gut im Griff...“

„Abgesehen von meinen Träumen, meinst du wohl... Aber das stimmt nicht wirklich. Das ist es ja. Ich lebe jetzt zwar in Mexiko, anstatt in Deutschland, aber sonst hat sich nicht viel getan. Wenn ich heute zurückkehren würde, wäre doch alles beim Alten. Mich selbst und meine Gefühle habe ich hier doch weiterhin ignoriert.“

„Einen Mangel an Gefühlen kann ich bei dir nun wirklich nicht erkennen Meiner Meinung nach war deine Reise eine ganz gute Überlebensstrategie.“

„Ja, nur sollte ich mich dann auch irgendwann einmal mit den verbannten Gefühlen beschäftigen. Genau das hatte ich für meine Auszeit geplant... irgendwie... doch fing ich hier erneut an mich abzulenken, um nur nicht nachdenken zu müssen. Ich habe Spanischvokabeln gebüffelt und Romane gelesen. Dann unterschrieb ich den Arbeitsvertrag mit dir.“ Chiara schaute zu Milton auf. „Ich hätte schon längst auf meine innere Stimme hören sollen, jedoch habe ich sie mit aller Gewalt ignoriert.“

„Heißt das, du willst kündigen?“ Milton ließ sie endlich los.

„Nein, das meine ich damit nicht. Ich muss einfach prinzipiell lernen auf meine innere Stimme zu hören. Sicher hätte ich dann viel eher gemerkt, dass Jakob krank war. Und auch meinen Verstand hätte ich sinnvoller eingesetzt: Entweder, um Jakob doch noch beistehen zu können, oder um zu merken, dass ich bereits alles versucht hatte. Erst im Gespräch mit Marga verstand ich, dass mein Schmerz nicht in erster Linie von Jakobs Tod ausgelöst wurde und eigentlich auch nicht von meinem schlechten Gewissen. Er wurde vielmehr von der Traurigkeit über all die Augenblicke verursacht, die ich mit Jakob nun nicht mehr teilen kann. Im Traum letzte Nacht habe ich allerdings gespürt, dass Jakob mir ganz nahe ist. Ich verpasse also gar nichts, es ist nur alles anders geworden. Und aufgrund dieser Erkenntnis quälen mich meine Erinnerungen an Jakob heute nicht mehr.“ Chiara bemerkte die tiefer gewordene Falte über Miltons Nasenwurzel. „Begreifst du, was ich meine?“

„Nein, nicht wirklich.“

„Der Tod ist gar nicht das zentrale Thema.“

„Was denn dann?“

„Ich weiß es noch nicht genau. Ich weiß nur, dass ich die letzten Monate vieles nicht verstanden habe, was ich jetzt aus einem ganz anderen Winkel sehe. Ich hatte schon befürchtet, dass meine Reise und das schnelle Einschlafen hier in Yukatan eine Flucht vor dem Leben sind.“

„Ich glaube eher, dass deine vielen Gedanken über den Tod eine Flucht sind. Sei doch froh, dass du so gut einschläfst. Andere würden dich darum beneiden.“

„Ich bin jetzt ja auch froh darüber, da der tiefe Schlaf meine Träume ermöglicht hat.“

„Dabei glaubst du hoffentlich nicht, dass man durch Träumereien das Leben verstehen kann oder gar an Reife gewinnt…“

„Natürlich kann man das. Aber auf eine andere Art. Träume haben doch etwas mit mir zu tun. Sie sind wie eine Realität, in der dem Körper nichts geschehen kann.“

„Vielleicht nicht dem Körper, aber deine Gedanken hören sich ziemlich verwirrt an.“

„Milton, mit solchen Kommentaren wirst du mir die Bedeutung meiner Träumen bestimmt nicht streitig machen, du bist nämlich nicht der Erste, der das versucht. Und zum Glück haben die anderen vor dir es auch nicht geschafft… wie auch immer… es geht mir darum, mich nicht mehr abzulenken, sondern mein Leben mit Wichtigem anzufüllen… anstatt Alltäglichem.“

„Chiara, einerseits wirst du hier nie wieder so viel wie in den letzten Tagen arbeiten und andererseits gehört das Alltägliche zum Leben dazu.“

„Aber es lenkt vom Wesentlichen ab. Ich habe in drei Monaten erst einen winzigen Fortschritt gemacht… durch meine Träume. Ich möchte aber viel schneller weiterkommen und mehr Gelegenheiten wahrnehmen.“

„Und was möchtest du damit erreichen?“

„Ich wünsche mir eine grundsätzlich neue Vorstellung vom Leben, vom Tod und was danach kommt.“ Beide schwiegen eine Weile.

„Chiara, darf ich dir eine Frage stellen?“ Chiara nickte. „Sei mir deshalb aber nicht böse…“

„Frag schon.“ Chiara hatte durch ihre eigenen Worte an Sicherheit gewonnen.

„Warum beschäftigst du dich eigentlich so penetrant mit dem Tod und anderen Welten? Wie es mir scheint, weißt du nicht einmal, wer du im Moment bist.“

„Du willst mich partout nicht verstehen, oder? Das gehört doch zusammen.“

„Meiner Meinung nach zäumst du das Pferd dabei von hinten auf… Anstatt dich zu entwickeln, gibst du dich total auf. Du hast es selbst gesagt: Du beginnst deine Gefühle für Jakob und deine Trauer zu verstehen. Verstehen! Lass sie doch einfach mal zu! Bevor bei dir das Spüren einsetzt, löst du deine Emotionen in einem fiktiven Nirwana oder sinnlosem Küchen-Aktionismus auf.“

„Das stimmt nicht. Ich bin mir näher denn je. Du weißt doch, wie quälend das alles für mich war.“

„Und zwar nur, weil du dich erst an Jakob und dann an die Vergangenheit mit ihm geklammert hast, anstatt dein Leben zu leben. Das habe ich dir schon in der Sturmnacht zu erklären versucht.“

„Das mit Jakob verstehst du nicht. Er war ein Teil von meinem Leben. Mein engster Freund. So einen Menschen werde ich nie wieder finden.“

Milton machte eine Pause, um dem Gespräch die Spannung zu nehmen. Dann fuhr er fort. „Und du bist dir wirklich sicher, dass Mann und Frau beste Freunde sein können? Noch dazu, wenn sich einer von beiden, so wie es bei Jakob war, in einer festen Beziehung befindet?“

„Natürlich.“

„Daran habe ich auch mal geglaubt. Die Realität hat mir dann gezeigt, dass solche Freundschaften früher oder später immer kompliziert werden.“

„Bei uns war es aber anders. Außerdem steht dir, denke ich, am allerwenigsten ein Urteil zu, denn du hattest doch parallel zu deiner Beziehung auch Freundinnen. Nach deiner Definition können das dann ja alles nur Affären gewesen sein, wenn du ohnehin nicht an solche Freundschaften glaubst.“ Die Sätze schossen unüberlegt aus Chiara heraus. Sie wollte Milton geradezu verletzen, um sich zu schützen.

Milton blieb ruhig. Er ignoriert Chiaras Unterstellung einfach. „Ich meine nur, dass du achtsam sein solltest, welchen Wert du einer Freundschaft gibst. Auch wenn es sich um ganz besondere Menschen handelt, sind Freundschaften im Allgemeinen überbewertet. Vor allem, wenn man sie uneingeschränkt verherrlicht und ein Freund für alle Lebensbereiche zuständig sein soll. Einige Freundschaften passen nun einmal nur in einen bestimmten Lebensabschnitt und dann trennt man sich wieder. Gerade Freundschaften zwischen Mann und Frau werden eines Tages entweder zu intensiv oder zu oberflächlich.“

„Das mag vielleicht bei dir so sein.“

„OK, dann lass es mich anders ausdrücken… Ich würde nie wieder meine Persönlichkeit für eine Beziehung, welcher Art auch immer, opfern. Und ich erwarte das auch nicht von meinen Freunden. Weder sollten Wünsche unterdrückt noch Lebensidee aufgegeben werden. Alternativen sind OK, aber Selbstaufgabe ist nicht OK. Auch, wenn sich das wie Verschmelzung oder absolute Harmonie anfühlt… eine Symbiose mit einem anderen Menschen hat meiner Meinung nach nichts mit Freundschaft zu tun. Sie verwirrt nur und macht abhängig.“

„Du kanntest Jakob doch gar nicht. Schon allein deshalb kannst du unsere Freundschaft nicht bewerten!“ Chiaras Stimme überschlug sich.

Beschwichtigend ergriff Milton ihre Schulter. „Chiara, ich bewerte weder dich noch Jakob. Auch nicht die Beziehung, die euch verbunden hat. Dennoch hängt dein Herz an einem Idealbild, das durch Jakobs Tod erstarrt ist…“ Chiara schaute zu Boden. „Übrigens habe ich eben von mir und meinen Fehlern berichtet… Aber es scheint dabei wohl einige Parallelen mit dir und Jakob zu geben, wenn du dich derart angesprochen fühlst.“ Chiara schluckte, denn den Schuh hatte sie sich wahrlich selbst angezogen. „Außerdem möchte ich nicht, dass du mir etwas vormachst, nur um Diskussionen zu vermeiden… genau das hast du doch gestern gemeint, oder?“ Chiara brachte nur ein leichtes Schulterzucken zustande. „Ich schätze Menschen mit Ecken und Kanten, auch wenn ich nicht mit ihnen übereinstimme. Verstell dich also bitte nicht meinetwegen…“ Chiara spürte Miltons durchdringenden Blick. Als er endlich ihre Schulter los ließ, lehnte sie sich erleichtert gegen den Tisch, während Milton fortfuhr. „Ich habe immer meine eigene Lebensform gesucht. Sobald ich merkte, dass jemand mich in ein Schema pressen wollte, bin ich gegangen. Das habe ich bei meinem Vater so gemacht und ich werde es bei jeder Partnerin so tun. Leider ist es mir bei Frances erst viel zu spät aufgefallen.“ Milton hatte sich gegen den Türrahmen gelehnt. „Man braucht Freiheit, um sich entwickeln zu können.“

Als Chiara ihn dort so stehen sah, wie bei ihrer ersten Begegnung, kamen auch die Gedanken von damals zurück. Sie hatte recht behalten. Milton war zu souverän, zu dominant, zu unnahbar, um Beziehungsprobleme an sich herankommen zu lassen. „Du kannst mir nicht erzählen, dass du auf immer Single bleiben möchtest.“

„Das meine ich damit auch nicht. Beziehungen können faszinierend sein, an den Gegensätzen kann man wachsen. Die meisten Menschen und insbesondere Frauen scheint aber genau das zu beängstigen. Überall sehe ich, wie sie sich erst interessant geben und von den Gegensätzen fasziniert sind. Irgendwann versuchen sie dann den Partner zu verändern und ihnen gleich zu machen. Oder sie wollen gar ihre Liebe legalisieren, indem sie heiraten, und mit so einer Motivation hört die Freiheit dann auf. Wozu sollen derartige Beziehungen also gut sein?“

Chiara zog die Brauen hoch und legte den Kopf zur Seite. „Vielleicht suchen diese Menschen Nähe und damit Sicherheit.“

„Dann hätten sie das falsche Mittel gewählt. Sicherheit kann vielleicht eine schöne Nebenerscheinung sein, während man sich zusammen frei entwickelt und miteinander wächst, doch wenn Liebe von Bestand sein soll, braucht sie endlose Freiheit. Und um diese Freiheit aushalten zu können, benötigt man eine Selbstsicherheit, die ich noch bei keiner Frau gefunden habe. Höchstens bei meiner Grandma…“ Milton lächelte flüchtig, fuhr aber ernst fort: „Und wenn ich sogar in einer modernen Großstadt wie New York keine solche Frau getroffen habe, wieso dann gerade an einem einsamen Küstenstrich wie diesem? Das Thema Beziehung ist also für mich auf unbestimmte Zeit aufgeschoben, denn ich werde vermutlich noch eine ganze Weile im Caracol bleiben. Mein Leben hier gefällt mir. Es ist unkompliziert und ich kann mich auf Dinge konzentrieren, die mir wichtig sind.“

„Was ist denn für dich wichtig?“

„In erster Linie Selbstverwirklichung und die besagte Aufrichtigkeit. Außerdem möchte ich das Leben genießen… entspannen… arbeiten, um zu leben, und nicht leben, um zu arbeiten, wie man so schön sagt. Sport, Natur, Kontakte zu interessanten Menschen und nur kurze Kontakte zu den weniger Interessanten. Das ist mir in New York besonders klar geworden. Ich habe hier Ruhe gefunden und fühle mich einfach wohl. Das reicht mir vorerst.“

„Und wohin führt dich das? Was ist der Sinn dabei?“

„Die Entwicklung meiner Person, Reife… und vielleicht finde ich irgendwann einmal Liebe. Mehr Sinn brauche ich im Moment nicht.“

„Wieso bist du dann vorhin einfach aufgestanden und weggegangen? Das hatte weder mit Persönlichkeit noch mit Reife zu tun.“

Milton verließ die Küche. Draußen drehte er sich zu Chiara um und forderte sie mit einer Handbewegung auf ihm zu folgen. Die Sonne war bereits hinter das Haus gewandert und warf einen langen, breiten Schatten auf die Dünen. Bedrohlich anwachsende Wolkentürme tauchten den Horizont in diffuses Licht. Sie setzten sich in den Sand und Milton zündete eine Zigarette an. „Magst du auch eine?“ Er hielt Chiara die Packung hin und sie bediente sich. Der Rauch machte sie schwindelig. „Natürlich mache auch ich mir Gedanken über den Tod. Die Antwort, die ich gefunden habe? Man lebt nur einmal! Deshalb ist für mich der sogenannte Sinn des Lebens, es jetzt auszukosten, und das tue ich hier in vollen Zügen. Wenn ich merke, dass ich das Gefühl für die Schönheit der Welt verliere, gehe ich ins Internetcafé und spekuliere mit Aktien. Das erinnert mich gleich wieder an all die Intrigen und Rivalitäten in New York und öffnet mir die Augen dafür, wie sehr mir mein Leben hier gefällt. Gleichzeitig finanziert es mein Dasein… Was den Tod betrifft: Ja, den habe auch ich kennengelernt. Mein bester Freund, Rick, wurde neben mir in der Metro erschossen. Einfach so, ohne Grund. Auch er war zu jung zum Sterben. Er war lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort. Es hätte genauso gut mich erwischen können… Sein Tod kam und hat bewiesen, dass das Leben ungerecht ist... und sein Leben war einfach vorbei… Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann zu Hause war, blutverschmiert. Ich muss versucht haben ihn zu retten, doch hatte der Schuss das Herz erwischt… Unsere eigene Sterblichkeit setzt uns Grenzen und macht uns menschlich. Wir sind eben Lebewesen und verschwinden eines Tages wieder. Staub zu Staub. Das ist das Leben…“

„Das mit deinem Freund ist schrecklich... aber noch trauriger klingt deine Schlussfolgerung. Sie ist so hoffnungslos.“

„Findest du? Endlichkeit ist vielleicht unüberwindbar, dafür aber realistisch. Wie soll man das Leben auch sonst sehen?“

„Ich wollte schon immer, dass es für mich mehr Träume bereithält, als die Realität zerstören kann, und ich glaube, das ist mir erst heute so wirklich bewusst geworden. Vielleicht kommt der Tod nur irgendwo zwischen meinem Jetzt und meiner Ewigkeit vor. Er wäre dann unwichtig und die Endlichkeit hätte keinen Platz mehr.“

„Etwas sehr poetisch, meinst du nicht? Wie sollen dir diese Floskeln in deinem Alltag nutzen?“

„Darüber muss ich noch ein wenig nachdenken. Aber die Idee steckt für mich voller Möglichkeiten. Nur das zählt im Moment.“ Chiara war stolz auf ihre Worte. Besonders, weil Miltons zynische Zwischenbemerkung sie nicht von ihrem Gedanken abgebracht hatte.

„Eine recht passive Lebensanschauung. Damit wirst du nicht besonders weit kommen, Chiara.“

„Wieso nicht? Wenn ich sie mit freiem Willen und Selbstverantwortung fülle… ja, das ist es wahrscheinlich, was mir damals gefehlt hat und dieses Loch in mir aufriss… Verantwortung für mein Leben.“

Beide hingen ihren Gedanken nach, bis Milton wieder das Wort ergriff. „Rick und ich haben immer von Freiheit geträumt… von innerer Freiheit, voller Selbstverantwortung. Und diesen Traum lebe ich für ihn weiter, dass mein Freund nie im Grau des Vergessens versinken kann.“

„Milton… bist du dabei nicht vielleicht etwas sehr empfindlich geworden? Du akzeptierst ja gar nichts mehr außerhalb deiner Vorstellungen.“

„Das sehe ich anders, denn das hier hat nicht nur etwas mit Akzeptanz, sondern mit ganz konkreten Erfahrungen zu tun… Ricks Frau hat nämlich nach seiner Ermordung unsere Träume systematisch zerstören wollen. Sie hat sich von einer Sekte regelrecht einsaugen lassen und nur noch für ihr nächstes Leben Interesse gezeigt. Dabei ist sie vollkommen hysterisch geworden und hat ihre Freiheit geopfert. Alles ließ sie sich vorschreiben. Nichts durfte bleiben, wie es mit Rick war. Sie hat sich von sämtlichen Freunden abgewendet und all ihren Besitz verkauft, einschließlich der Erinnerungsstücke an Rick… deshalb bin ich vorhin weggegangen. Es war wie ein déjà vu…“

„Das alles hättest du mir doch längs erzählen können.“

„Ja, vielleicht…“ Bedächtig drückte Milton seine Zigarette aus und Chiara schwieg. „Natürlich ändere ich deine Gedanken nicht, indem ich sie ablehne. Es ist sicherlich ganz menschlich, Todesumstände im Nachhinein zu interpretieren. Dennoch… das Leben im Leben aufzugeben kann logischerweise nicht ans Ziel führen, Chiara. So eine Vorgehensweise betäubt nur. Sie lenkt langfristig von der Wirklichkeit ab. Du kannst nicht von mir erwarten dich dabei zu unterstützen.“

„Milton, der Traum hat mir Trost und Hoffnung geschenkt und hier sind weit und breit keine Sekten in Sicht. Außerdem bedeutet der Gedanke, dass es ein Leben nach dem Tod gibt oder wir wiedergeboren werden, doch lange nicht, dass ich mein jetziges Leben aufgebe. Im Gegenteil. Gerade deshalb werden Aufrichtigkeit und Verantwortung noch wichtiger, vielleicht ja sogar zum zentralen Thema in so einem Lebenskonzept… Die Entwicklung zählt. Das hast du doch eben selbst gesagt. Wieso sollte es denn keine Entwicklung über ein Leben hinaus geben?“

„Du redest dir den Tod nur schön. Das sind doch Fantasien, die trösten sollen.“

„Und wenn das die Wirklichkeit ist und zusätzlich noch trösten kann?“

„Sei nicht kindisch.“

„Wieso kindisch. Du lässt deinen Freund doch auch in deinen Gedanken weiterleben. Ist das nicht vergleichbar?“

„Dabei weiß ich aber, dass es sich nur um Erinnerungen handelt. Ich verändere nicht gleich die Realität oder ziehe Schlüsse auf andere Leben.“

„Ich glaube nicht an die Realität. Wie schon gesagt, nur der Betrachtungswinkel zählt. Und mit dem Tod scheint es ähnlich wie mit der Realität zu sein.“

Milton hob eine Muschel auf und drehte sie in seinen Fingern. „Komisch… egal von welcher Seite ich das Ding hier betrachte, es bleibt immer eine Muschel.“

Chiara wurde wütend. „Wieso nur bist du so engstirnig? Und woher weißt du, dass du die ganze Realität siehst? Haben sich die Menschen nicht immer wieder auf ihre Sinne verlassen und wurden getäuscht? Die Erde war mal flach, dann stand sie im Mittelpunkt des Universums… und mittlerweile sind viel mehr als unsere drei Dimensionen nachgewiesen. Wieso kannst du meine Gedanken nicht einfach akzeptieren? Ach, es ist ja eigentlich egal.“ Chiara gab auf. Miltons Sichtweise war genauso unbewiesen wie die ihre und gerade wollte sie das beschwichtigend hinzufügen, als sie die Veränderung in ihm bemerkte. Die resolute Ausstrahlung, die ihn normalerweise umgab, war verschwunden.

Chiara schwieg. Die anstrengende Diskussion tat nicht gut. Sie wollte lieber allein sein und stand auf. „Milton, ich brauche ein wenig Zeit für mich. Die Sachen in der Küche räume ich später zurück, OK?“

Milton zündete sich eine weitere Zigarette an und legte den Kopf in den Nacken, um den Rauch in die Dämmerung zu entlassen und zu ihr hoch zu schauen. Mit müder Stimme sagte er: „Chiara, bitte pass auf dich auf. Ich könnte das kein zweites Mal ertragen.“

„Es wird nichts passieren. Du musst einfach nur deinen Standpunkt etwas lockern... Dann wirst du mich verstehen, wenn du das überhaupt willst.“ Chiara klopfte den Sand von ihrer Hose und drehte sich zum Gehen, als Milton ihr plötzlich den Weg versperrte.

Dicht stand er vor ihr, fast bedrohlich nah, und packte sie unsanft. Seine Stimme zischte. „Ich werde das kein zweites Mal durchmachen. Es liegt allein bei dir. Lass diesen abgehobenen Irrsinn. Er ist gefährlicher, als du im Moment überschauen kannst.“

„Nichts liegt bei mir. Wie wagst du es nur, deine Ängste über eine meiner wertvollsten Erkenntnisse zu stülpen? Wie bereits gesagt erwarte ich mehr Verständnis von dir, Milton.“ Und kampflustig fuhr sie fort. „Gut, du hast schlechte Erfahrungen mit ähnlichen Gedankengängen gemacht, aber das gibt dir nicht das Recht, meine Hoffnung zu vernichten. Hoffnung, dass mein Leben endlich wieder vorwärts gehen kann. Endlich habe ich ein neues Konstrukt fürs Leben gefunden… und darin einen Platz für den Tod. Und der ist nicht am Ende, sondern kommt irgendwo immer wieder vor… und dann verlangst du aus rein egozentrischen Gründen, dass ich dieses Konstrukt verwerfen soll? Nein, Milton, den Gefallen kann und werde ich dir nicht tun. Auch nicht, wenn du mir drohst.“ Chiara versuchte sich aus dem Griff zu lösen, doch gelang es ihr nicht. „Ich möchte genauso wenig in ein Schema gepresst werden wie du.“ Sie hätte noch weiter reden können, verstummte aber, riss sich los und lief davon.

Äste schlugen ihr um die Beine, als sie durch die Dunkelheit rannte. Ihre Wangen waren feucht und die Lippen salzig. Sie war blind vor Tränen und rannte, bis sie unverhofft vor Áak Hiils Hütte zum Stehen kam. Vollkommen außer Atem. Wie hatte sie den Weg bloß wiedergefunden? Sie war doch einfach nur gerannt, ohne ein Ziel. Suchend schaute sie sich um. Alles sah so aus wie beim letzten Mal.

Als Chiara Stimmen aus der Hütte vernahm, ließ sie sich zu Boden sinken, gleich neben der Türöffnung. Wieso musste sie gerade jetzt hier eintreffen? Jetzt, wo Áak Hiil nicht alleine war? Nur mit ihr meinte sie über all das sprechen zu können, was ihr auf dem Herzen lag. Ein leises Wimmern drang an ihre Ohren und erst nach einer Weile bemerkte sie, dass sie selbst die Quelle davon war. Doch beruhigte das Weinen und schwemmte allmählich ihr Selbstmitleid davon.

Irgendwann fühlte sich Chiara stark genug die Gegenwart eines Fremden ertragen zu können. Selbst wenn er ihren Kummer nicht verstünde, konnte ihr Áak Hiil bestimmt dennoch helfen. So raffte sie sich auf und strich ihre bestickte Bluse etwas umständlich glatt. Dann trat sie zögerlich an den Eingang der Hütte.

Kaum war sie dort erschienen, breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf Áak Hiils Gesicht aus und trotz ihrer Missbildung machte sie sich recht behände auf die Beine. „Ch’i Báab, komm herein, ich habe dich schon erwartet.“

So viel Herzenswärme überraschte Chiara und gleich schossen ihr wieder Tränen in die Augen, die sie flüchtig mit dem Handrücken entfernte. Nur kleine Tröpfchen blieben an den Wimpern glitzern, Diamanten gleich, und ließen den Gast am Feuer in funkelndes Strahlen tauchen. Er schien aus einer Märchenwelt zu kommen. Majestätisch und stolz saß er dort, ohne sie zu beachten. Um die Hüften trug er einen einfachen Lendenschurz, die sonnengebräunte Haut seines wohlgebauten Körpers und die dunklen, langen Haare, die er offen trug, schimmerten im flackernden Schein. Sein Alter war schwer zu schätzen, doch wirkte er älter als Áak Hiil. Abwesend, ganz in Gedanken verloren, schien er mit etwas zu hadern. Er starrte in die Flammen, als könne er ihrem Zucken eine Botschaft entlocken.

Von außen sah man ihm nichts weiter an, doch innerlich war Óoxlahun Mo’ aufgewühlt. Was wollte dieses einfache Mädchen, hier, im Wayib, bei seiner Meisterin? Zu viele Fragen lagen ihm am Herzen, die sein Gemüt umnebelten. In ihnen ging es um Höheres und die Antworten waren unerlässlich für den Weg seiner Vergeltung. Nur Áak Hiil könnte ihm verstehen helfen. Verstehen, wie sich die Geschichte derart entwickeln konnte. Wann hatten sich die Götter abgekehrt und was hatte sie verstimmt? Lenkte einst gar die Neuerung von Ballspielplatz und Tempel die Aufmerksamkeit der Bösen Herren auf Xukpi? Die Gedanken des Prinzen durchstreiften die Geschehnisse, die alle auf ihre Art zu jenem Morgen und seinem schicksalhaften Kampf im Dämmerlicht geführt hatten, diesem fahlen Licht, das derart unheilvolle Energien barg.

Óoxlahun Mo’ zwang sich an bessere Tage zu denken, während derer die Arbeiten an Tempel und Ballspielplatz begonnen hatten. Durch rituelle Tötung legte man damals die Sakralkräfte zur Ruhe und bewahrte sie in den einzelnen Steinen. Es waren uralte Energien, die bereits wirkten, seit der heilige Boden der Stätten das erste Mal geweiht worden war. Bewusst hatte man die Neugestaltung durch unzählige Zeremonien begleitet, um diese Energien zu erhalten und später ohne Verlust zu erwecken. Alles lag doch einem ausführlichen Plan zugrunde, den man gewissenhaft befolgen ließ. Oder hatte man etwas Wichtiges vernachlässigt?